Dorf testet Inklusionsidee
Ein Dorf testet die Inklusionsidee
"HEU HEU HEU HEU!“ Laut und mit hocherhobenem Kopf ruft Florian Renz das Lockwort über die hügelige Wiese und wedelt de-monstrativ mit einer Scheibe Graubrot. Sieben schottische Hoch-landrinder folgen dem Rufen, traben flott den Hügel hinauf und machen sich vor Florians Hand die Scheiben streitig. Auf dem Bio-Hof Gensler gehört Kühefüttern zu seinen Lieblingsarbeiten, noch ein bisschen höher im Kurs allerdings steht das Treckerfahren, „dafür hab ich sogar einen Führerschein gemacht“, erklärt der junge Mann stolz. Fünf Tage die Woche arbeitet er hier auf einem Außenarbeitsplatz von antonius – Netzwerk Mensch. Und weil er gleich nebenan in Poppenhausen wohnt, kommt er sommers mit dem Rad zur Arbeit und winters auf Schusters Rappen. Im Ort versorgt er sich selbst, kennt viele Bewohner, engagiert sich auch ehrenamtlich bei Dorffesten, beim lebendigen Adventskalender, im Schwimmbadkiosk und statt Badminton bei antonius spielt er nun Tennis im örtlichen Verein.
Dass er in einer Gemeinde ein weitgehend selbstbestimmtes Leben führen kann, verdankt er dem Projekt Leben und Arbeiten in Poppenhausen. Das „Inklusionsprojekt im Sozialraum“ entstand 2008 als Koproduktion von antonius − Netzwerk Mensch und der Gemeinde Poppenhausen mit dem Ziel, Menschen mit Behinderung ein Höchstmaß an Normalität im Wohnen, Arbeiten und Leben als Bürgerinnen und Bürger einer Gemeinde zu ermöglichen. „Jeder Mensch soll die Chance haben, seine persönliche Lebensperspektive zu entwickeln und zu gestalten. Dazu gehört auch die Entscheidung, wo er leben und arbeiten möchte“, sagt Rainer Sippel, antonius-Geschäftsführer. Mit dem Projekt sind inzwischen sieben Menschen mit Behinderungen nach Poppenhausen gezogen: Sie arbeiten betriebsintegriert, sind sozialversicherungspflichtig angestellt oder „auf dem Absprung aus der Werkstatt“, wohnen in einem Haus mit Einzelapartments oder in eigener Wohnung direkt im Ort, singen im Chor, sind bei der freiwilligen Feuerwehr, spielen Orgel in der Kirche, engagieren sich ehrenamtlich, helfen mit bei den vielen örtlichen Festen und − gehören einfach dazu. Es klingt wie eine Utopie, ist aber ganz real.
Sozialraum Poppenhausen
Der 2 500-Seelen-Ort liegt in der Rhön, rund 20 Kilometer südöstlich von Fulda und am Fuß der Wasser-kuppe, dem touristischen Highlight der Region. Viele Firmen sind hier ansässig, es gibt Haus- und Zahnärzte, eine Kinderkrippe mit Hort, eine Schule, eine Apotheke, Krankengymnastik, Supermärkte, ein Café, Gaststätten, eine Metzgerei, eine Bäckerei, ein Seniorenheim, einen Friseur: eine wachsende und lebendige Gemeinde mit guter In-frastruktur. In der Ortsmitte mit der Adresse Von-Steinrück-Platz 1A steht die ehemalige alte Schule, das ehemalige Bürgermeisteramt, jetzt „Wohnsitz des Projekts“: Im Haus sind für das Projekt sieben barrie-refreie Apartments mit Küche und Bad entstanden, im Flur ein Fahrstuhl und im Erdgeschoss eine große, gemeinschaftlich genutzte Wohnküche. Eine Wohnung ist „fremdvermietet“, der Mieter komme abends oft auf ein Bier vorbei, erzählt Stephanie Müller-Gerst bei der Hausbesichtigung. Mitte 2009 übernahm die Sozialpädagogin die Projektleitung und kümmert sich ums Wohnen und Arbeiten der „Neupoppenhausener“ − inzwischen mit einem Kollegen. Ihr Ziel ist dabei weniger institutionelle Betreuung und mehr die Förderung nachbar-/bürgerschaftlichen Engagements.
Wie alles begann
Bei einem Neujahrsempfang 2008 trifft Rainer Sippel auf den Bürgermeister der Gemeinde Poppenhausen, Manfred Helfrich. Beide verstehen sich auf Anhieb und beschließen, Poppenhausen zu einer inklusiven Gemeinde auszubauen. Einige Gespräche weiter, im März 2008, ist die „Tinte trocken“: Gemeinde und antonius starten das Projekt „Leben und Arbeiten in Poppenhausen“. Den Anfang machen 2009 zwei Außenarbeitsplätze im Ort und im Herbst ist ein geeignetes Gebäude für die Wohnungen gefunden. Im Dezember schließlich wird aus der Projektgruppe der Verein Leben und Arbeiten in Poppenhausen als Bindeglied zwischen allen Beteiligten: Der Bürgermeister ist, um die enge Tuchfühlung zur Gemeinde festzuschreiben, qua Amt zum Zweiten Vorsitzenden des Vereins bestimmt. Finanzielle Unterstützung für den Hausumbau, 690 000 Euro, kommen vom Landessozialministerium, vom Landeswohlfahrtsverband, von Aktion Mensch und antonius. Der Verein Leben und Arbeiten in Poppenhausen stemmt 30 000 Euro mittels Spendenakquise selbst. Die Gemeinde schließt einen Erbpachtvertrag mit antonius und schreibt die lange Nutzung des Hauses fest. Und dann geht es los: Im September 2011 ziehen die Ersten ein. Zum Einweihungsfest kommen viele Menschen aus dem Ort, ein Zeichen, dass das gegenseitige ‚Aufeinandereinlassen‘ begonnen hat.
Gute Öffentlichkeitsarbeit für das Dorf
„Mit dem Projekt haben wir erst Arbeit geschaffen, dann folgte das Wohnen und schließlich das Leben in unserer Gemeinde. Das ist die Integration dieser Menschen in die Bürgergemeinschaft“, bilanziert Bürgermeister Manfred Helfrich und erklärt, warum er sich mit den Verantwortlichen der Kommunalpolitik für das Projekt stark gemacht hat: Andere Gemeinden kämpfen wegen der anhaltenden Landflucht junger Menschen und der alternden Gesellschaft ums Überleben. Das soll Poppenhausen nicht widerfahren. Deshalb will er rechtzeitig die Weichen für künftiges Wachstum stellen: „Unsere Gemeinschaft ist lebendig, die Verhältnisse sind stabil. Damit das so bleibt, signalisieren wir nach außen: Wir wollen wachsen, uns entwickeln und brauchen Menschen, die unsere gute Infrastruktur sichern. Unsere Ausrichtung steht auf Leben in guter Nachbarschaft: Wir sind ein positives Beispiel in der Region, wenn wir als Gemeinde mit dem Projekt soziale Verantwortung übernehmen und die Vielfalt von Menschen akzeptieren und dies auch leben. Wenn wir neue Baugebiete ausweisen und sie nach-gefragt werden, dann ist dies ein gutes Zeichen. Deshalb haben wir gute Hoffnung, den demografischen Wandel einigermaßen zu bewältigen.“
Zu dritt auf Reisen
„Wir waren jetzt vier Tage in Papenburg bei der Meyerwerft“, erzählt Michael Griem voller Stolz. „Florian, Steffen und ich. Wir haben viel gesehen, haben uns selbst versorgt, weil wir bei dem Busreiseunternehmen nur Übernachtung mit Frühstück gebucht hatten. Letztes Jahr waren wir auch schon in London!“ Im Sommer 2014 zog der 57-Jährige von Fulda nach Poppenhausen, weil „ich was Neues kennenlernen wollte. Mir gefällt es gut im Dorf und ich komme mit allen supergut klar“. Von der Werkstatt wollte er in die „freie Wildnis“. Zwei Jahre arbeitete er, betriebsintegriert, in der Gaststätte auf der Maulkuppe, dann reichte es ihm: Er war, weil kein Bus auf den Berg fährt, immer aufs Mitfahren bei Kollegen angewiesen. Jetzt arbeitet er sechs Abende in der Woche in der Gaststätte Gensler mitten in Poppenhausen, auf einem Außenarbeitsplatz in der Spülküche. Sein Weg zur Arbeit ist kurz, unterwegs trifft er Nachbarn und Bekannte, hat Zeit für einen Schnack: „Tagsüber bin ich immer im Dorf unterwegs. Ich bin im Sängerchor Rhönlust. Ich singe mit den Frauen, Sopranstimme.“ Ob er eine Kostprobe zum Besten geben könne? Er lacht, ziert sich, sagt „okay“ und hebt mit klarer, heller Stimme an: „Auf du junger Wandersmann, jetzo kommt die Zeit heran, die Wanderzeit, die gibt uns Freud'!“ Applaus, er wechselt wieder in seine Sprechstimme: „Mir macht es gar nichts, dass ich am Abend und am Wochenende arbeiten muss. Ich bin eben einer, der flexibel ist, auch in meinem Alter“, meint er und lacht leise. Sein Chef Stefan Gensler ist gerade dazugekommen und erzählt: „Michael kenne ich schon lange, er war, bevor er bei uns angefangen hat, oft als Gast da. Er bringt mit seiner Art Leben in die Arbeit.“ Und mit dem Haus und überhaupt dem Projekt bleibe schließlich der Ortskern belebt: „Wir haben ein tolles Miteinander!“
Das Dorf mitnehmen
Natürlich lässt sich ein solches Inklusionsprojekt nicht einfach und unvermittelt in die Mitte eines Orts pflanzen. In Poppenhausen bereiten Bürgermeister, Sozialpädagogin und Vereinsmitglieder die Menschen darauf vor: Möglichst alle sollen mitgenommen werden. Und − es regt sich durchaus Widerstand. Stephanie Müller-Gerst: „Der Bürgermeister hat uns den Weg ins Dorf geebnet und das Projekt stark beworben. Ich habe alle im Ort, von denen ich wusste, sie hegen Vorurteile oder Ängste, angesprochen und versucht, die abzubauen. Meist ist es mir gelungen, ich komme zwar nicht aus Poppenhausen, aber ich spreche auch Platt.“ (lacht) Auch wenn es längst um die „Neuen“ ruhig geworden ist, ist die quirlige Projektleiterin im Ort präsent und beantwortet jede Frage: Das Prinzip der kleinen Schritte nennt sie das und stellt fest: „Insgesamt hat das Projekt aber eine breite Basis. Ich habe so viele Angebote für Außenarbeitsplätze, die noch gar nicht alle besetzt sind.“ Das bestätigt auch Frank Unger, erster Vorsitzender des Vereins und Teamleiter der Leistungsabrechnung bei antonius. Er ist Poppenhausener und beobachtet ein tieferes Umdenken in der Bevölkerung: Nach seiner Akquisetour durch die Gemeinde im letzten Jahr sei der Verein stark gewachsen. Der ist inklusiv und eine Mitgliedschaft kostet nur zwei Euro monatlich, „das ist nicht viel, hilft uns aber, nötige Dinge fürs Haus anzuschaffen oder die Finanzierung eines 45-km/h-Autos zu unterstützen.“ Poppenhausen hat mit über 40 gelisteten Vereinen ein sehr aktives Clubleben, viele Einwohner sind mehrfach engagiert. Deshalb unterstützen sie den Verein gern finanziell, nur mit Zeit wird’s manchmal knapp. Der Verein engagiert sich bei Veranstaltungen der Gemeinde wie Märkten und Ausstellungen, fördert die jährlichen Ferienfreizeiten der Bewohner und nachbarschaftliches Engagement.
Auf dem Bauhof
„Arbeit ist gut“, strahlt Uli Büttner, „reicht heute. Bin seit 2009 auf dem Bauhof, hab’s ausprobiert, und das hat geklappt. So bin ich hier hängen geblieben. Ich war einer der Ersten im Dorf, wollte aber bei meinen Eltern wohnen bleiben. Mit meinem Auto fahre ich jeden Tag zur Arbeit, das macht richtig Spaß.“ Es ist ein 45-km/h-Auto, für das er den Führerschein hat. „Für Uli gibt es genug Aufgaben“, meint sein Chef Markus Heller, „die er trotz seiner Behinderung machen kann und die uns entlasten. Seitdem er hier ist,hat sich das Bewusstsein für die Behinderung verändert. Es geht nur miteinander, wenn beide voneinander lernen. Das gilt für das gesamte Dorf, die Menschen sind nicht mehr fremd und helfen überall mit: Es hat mich positiv überrascht, was sie können.“
Teilhabe in der Gemeinde
Seitdem der Von-Steinrück-Platz 1A bewohnt ist, hat sich viel in der Gemeinde verändert. Der Bürgermeister: „Die Bewohner sind zu echten Mitbürgern geworden und ich bemerke, mit welcher Freude sie hier leben und ihre Selbstständigkeit ausreizen. Sie nehmen am Gemeindeleben teil, feiern auf ihrer Terrasse mit Freunden und Nachbarn und sind bei Dorffesten und Regionalmärkten gern dabei.“ Dann öffnen sie auch ihr „Aufwärmstübchen“, und das hat sich rumgesprochen: Im Gemeinschaftsraum gibt es dann Glühwein, Tee und Selbstgebackenes und jeder ist willkommen. Schon fast „Kult“, bemerkt Frank Unger: „Letztes Jahr war es hier proppenvoll, das halbe Dorf war da.“ Und ganz unaufgeregt und zwanglos kommen Mitglieder der Gemeinde ins Gespräch, Rainer Sippel: „So lassen sich Barrieren abbauen und Vielfalt wird als Bereicherung wahrgenommen.“ Bürgerinnen und Bürger des Orts machen die inklusive Gemeinde zu ihrer eigenen Angelegenheit. Auch im Bürgerverein „Wir für Poppenhausen“ sind die Neuein-wohner aktiv − der Verein organisiert ehrenamtliche Arbeiten im Dorf. Sie übernehmen im Sommer einmal in der Woche den Schwimmbadkiosk − sonst gäbe es ihn nicht. „Einer macht Pommes, einer die Kasse und ein dritter sorgt für die Getränke“, erzählt Stephanie Müller-Gerst. „Jeder kann sich im Dorfleben engagieren, man hilft sich eben gegenseitig.“ Manfred Helfrich setzt dazu: „Es ist ein Mehr an Lebensqualität für die Menschen, wenn sie in einer Gemeinde leben.“
Die Begleitung in Wohnen und Arbeit
Dass sie sowohl Wohnen als auch Arbeit in Poppenhausen begleitet, sieht Stephanie Müller-Gerst zwar als zeitsparenden Vorteil, achtet aber bei Entwicklungsplanungsgesprächen strikt darauf, beide Bereiche zu trennen: „Alles soll auf den Tisch kommen, aber das finde ich unmöglich. Was geht es meinen Arbeitgeber an, wenn ich vielleicht meine Wäsche nicht wasche?“ Also sind bei Gesprächen im Betrieb Vorgesetzte und Betriebspaten dabei. Überhaupt sei Wohnen in Poppenhausen stark nachgefragt: „Vermieten könnte ich das Doppelte.“ Aber anstatt in der Gemeinde ein neues Gebäude für Einzelapartments zu finden, sucht sie jetzt ein-zelne Wohnungen im Ort: „Wir wollen noch weiter ins Dorf.“ Dass das dauern wird, weil es kaum Leerstand gibt, entmutigt sie keineswegs: Es ist der nächste logische Schritt auf dem Weg in Normalität.
Fazit:
Das Konzept lässt sich sicherlich in anderen Gemeinden oder Regionen adaptieren, es hängt vor allem von den agierenden Menschen ab. Rainer Sippel: „Solch eine Zusammenarbeit funktioniert nur, wenn alle Menschen, die daran beteiligt sind, sich auch wirklich für die Sache engagieren.“ Was es noch braucht? „Ein starkes Netz-werk aus Vereinen, Unternehmen, Vertretern der Kirchen, Nachbarn und der Gemeinde!“ In Poppenhausen schafft das Projekt einen Mehrwert für alle Beteiligten, eine Win-win-Situation.
antonius hat ein wegweisendes Modellprojekt initiiert, das große bundesweite Beachtung verdient, weil es vorwärtstreibt, selbstbestimmte Lebensentwürfe von Menschen mit Behinderung unterstützt, Normalität schafft, ein Leuchtturm in der Mitte der Republik, der wichtige Impulse liefern kann auch für die Zukunftssicherung ländlicher Regionen. In Poppenhausen läuft das Leben so selbstverständlich „all-inclusive“, dass sich der Besucher wundert, wie es denn jemals hat anders sein können. Und in der Nachbargemeinde, in Eichenzell, gedeiht inzwischen ein weiteres Modell und wieder sind antonius und Gemeinde die Treiber. Es wächst. GG