Wie inklusives Wohnen Realität wird
Beispiel aus Poppenhausen
Selbstbestimmt wohnen, ein eigenes Leben führen:
Für viele ist das eine Selbstverständlichkeit. Für Menschen mit Behinderung ist das aber nach wie vor oft nicht möglich. Zwei Projekte in Poppenhausen und Eichenzell zeigen, wie inklusives Wohnen gelingen kann – und wie es auch bald in Fuldas Zentrum umgesetzt werden soll.
Von SEBASTIAN KIRCHER
Das war wie eine Befreiung für mich“, sagt Steffen Teutloff. Der 45-Jährige war einer der ersten Bewohner der Alten Schule in Poppenhausen, die vor gut zehn Jahren für das Projekt „Leben und Arbeiten in Poppenhausen“ hergerichtet worden war. Zuvor hatte Steffen Teutloff auf dem antonius- Campus in Fulda, später dann in einer Wohngruppe in Marbach gewohnt. Das bedeutete großen Aufwand: Weil er bei Segelflugzeugbau Schleicher in Poppenhausen arbeitet, musste Steffen Teutloff erst nach Fulda pendeln, um von dort in die Rhön gefahren zu werden.
Außerdem wohnte er in Marbach mit zwölf Leuten in einer 24-Stunden-Betreuung zusammen. „Es wurde Zeit für etwas Neues“, blickt Teutloff zurück. Dieses Neue, das sollte „Leben und Arbeiten“ sein. Dabei ist das Projekt eher zufällig entstanden:
Poppenhausens Bürgermeister Manfred Helfrich (CDU) und antonius-Geschäftsführer Rainer Sippel hatten sich am Rande eines Jahresempfangs der Gemeinde darüber unterhalten, ob man nicht einmal etwas gemeinsam unternehmen möchte. „Die antonius-Bewohner sollten weg vom Heim, hinein in eine dezentrale Lage“, erinnert sich Helfrich. Als Standort kam dem Bürgermeister das Gebäude gegenüber vom Rathaus in den Sinn: „Da waren früher die Verwaltung drin, die evangelische Gemeinde und die Schule. Zuletzt wurde das Gebäude von einer Fahrschule benutzt“, sagt Helfrich. Das rund 200 Jahre alte Haus sei aber stark sanierungsbedürftig gewesen:
„Da war jahrzehntelang nichts dran gemacht worden. Wir wussten, das könnte uns eines Tages auf die Füße fallen.“
Die Idee mit dem inklusiven Wohnen kam der Gemeinde deswegen genau recht. „Die Sanierung war aber ein schwieriger und steiniger Weg“, berichtet der Bürgermeister. Denn Fördermittel vom Land für solche Inklusionsprojekte, die gab es damals noch nicht. „Wir waren quasi Vorreiter“, sagt Helfrich stolz. Dank der Hilfe des damaligen Ersten Kreisbeigeordneten und heutigen Fuldaer Oberbürgermeisters Dr. Heiko Wingenfeld (CDU) sei es doch noch gelungen, Geld vom Land zu bekommen. Auch die Gemeinde, der Landkreis, antonius und der neu gegründete Verein „Leben und Arbeiten“ halfen bei der Sanierung finanziell mit.
Mittlerweile wohnen sechs Menschen mit Behinderung in der Alten Schule, in der es im Gegensatz zur stationären Unterbringung nur eine minimale Betreuung gibt. Die Projektleiterin Stephanie Müller-Gerst und der Sozialpädagoge Marcel Schaaf sind für die Bewohner acht Stunden täglich da, am Wochenende aber gar nicht.
„Plötzlich ist keiner mehr da, der einem alles abnimmt. Dieser Schritt ist ein Sprung ins kalte Wasser“, sagt Müller-Gerst, und ihr Kollege Schaaf fügt an: „Die Bewohner müssen sich schon an die neue Lebenssituation gewöhnen, aber sie merken schnell: Die Welt geht nicht unter.“
Für Steffen Teutloff war es jedenfalls die richtige Entscheidung: „Endlich stehe ich auf meinen eigenen Füßen. Ich bin sehr zufrieden in Poppenhausen.“ Durch den Umzug ist er regelrecht aufgeblüht: Teutloff hat nicht nur einen kurzen Weg zur Arbeit, sondern hat auch den Führerschein gemacht, ist in der Feuerwehr aktiv und spielt die Kirchenorgel. Andere Bewohner sind sogar aus der Alten Schule in eine „richtige“ eigene Wohnung gezogen. „Dank ‚Leben und Arbeiten‘ können sich die Menschen mit Behinderung daran gewöhnen, wie es ist, ohne ständige Betreuung zu leben. Das soll auch ein Sprungbrett in die Selbstständigkeit sein“, erklärt antonius-Kommunikationsleiter Sebastian Bönisch.
Tatsächlich hat das Modell mittlerweile Schule gemacht: „Leben und Arbeiten“ hat Wohnungen in Gotthards und Dipperz, und das vergleichbare Projekt „Leben und Arbeiten in Eichenzell“ wurde initiiert. Im Oktober 2017 sind 17 Menschen mit Behinderung in das umgebaute Herrenhaus der Domäne in Eichenzell eingezogen.
„In Poppenhausen und Eichenzell sind die Bewohner eingebunden in ein starkes Netzwerk aus Vereinen, Unternehmen, Vertretern der Kirche, Nachbarn und der Gemeinde.
Das ist inklusives Miteinander – und das soll auch in der Stadt passieren“, sagt TanjaPreis aus der antonius-Geschäftsleitung.
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Poppenhausens Bürgermeister Helfrich kann anderen Kommunen nur empfehlen, ähnliche Projekte anzugehen:
„Auch persönlich habe ich viel durch ‚Leben und Arbeiten‘ mitgenommen. Die Bewohner sind jetzt gar nicht mehr aus dem Ortsbild wegzudenken. Die ganze Gemeinschaft gewinnt dadurch.“
Fuldaer Zeitung 25.08.2018